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Was ist Neuromarketing?

 

Vor ein paar Jahren wurde ich in der Leipziger Innenstadt angesprochen und gebeten an einer Erhebung zur Marktforschung teilzunehmen. Ich willigte etwas zögerlich ein. Daraufhin führte man mich durch das Treppenhaus eines alten Gebäudes, und ich fand mich schließlich an einem Tisch sitzend in einem kleinen, fensterlosen Raum wieder. Dort stellte man mir sehr viele Fragen über Produkte, die ich bis dahin nicht kannte. Dann setzte man mich vor einen Bildschirm, richtete eine Kamera auf mich und forderte mich auf, den Bildern auf dem Monitor mit meinem Blick zu folgen. In dem Moment wurde mir klar, dass ich gerade an einem Eye Tracking Experiment teilnahm.

 

Zu dieser Zeit war ich in einem Forschungsprojekt tätig, in dem wir unter anderem auch Blickbewegungen (Eye Tracking) an unseren Versuchspersonen erhoben. Ich war an einer renommierten Forschungseinrichtung, die wie alle wissenschaftlichen Labore in Deutschland viel Wert auf das Thema Datenschutz legte. Das bedeutete, dass wir unseren Proband:innen ein A4-Blatt voll mit Datenschutzhinweisen und Angaben zu möglichen Folgen der Untersuchung vorlegten und um schriftliches Einverständnis baten. Anders war es undenkbar diese Daten aufzuzeichnen. Hier, in dem dunklen Raum sitzend, lehnte ich schließlich das Eye Tracking Experiment ab, weil es eine Aufklärung darüber nicht gegeben hatte.

 

Rückblickend betrachtet hätte ich wohl gegen die Erhebung an sich nichts gehabt. Das Messen der Blickbewegungen ist eine Methode, die im Neuromarketing eingesetzt wird.

 

Neuromarketing nutzt die Erkenntnismethoden der Neurowissenschaften, also den "Blick ins Gehirn", um besonders die emotionale Wirkung von Produkten oder von Werbung zu erkunden und Faktoren zu ermitteln, die Kaufentscheidungen beeinflussen. Unternehmen erhoffen sich dadurch "verborgene" Informationen zu bekommen, die klassische Marketing-Methoden nicht liefern können. Die Hirnaktivität scheint oft genauer das Kaufverhalten vorhersagen zu können als die von Menschen geäußerten Präferenzen. Auch wird immer wieder der Nutzen betont, schon in der frühen Produkt-Design-Phase Verbesserungen einbauen zu können, den Konsumenten damit also entgegen zu kommen. Ziel ist es, die neurowissenschaftlich gewonnenen Informationen im Marketing physischer oder digitaler Produkte einzusetzen und dadurch Kunde und Produkt schneller und effizienter zusammenzuführen.

 

Was genau wird im Neuromarketing untersucht?

 

Die Idee ist, dass körperliche Reaktionen Aufschluss darüber geben können, was wir unbewusst von einem Produkt halten und wann wir bereit sind dafür Geld auszugeben. Typische Methoden sind z.B. Aufzeichnungen der Hirnströme (Elektroencephalographie, EEG), funktionelle Bildgebung (z.B. funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT), Aufzeichnungen von Blickzeiten und Blickbewegungen (Eye Tracking) sowie Indikatoren der Aktivität des autonomen Nervensystems, wie Herzrate oder Hautleitwert.

 

Als Zielgrößen können Aktivitätsmuster von bestimmten Hirnregionen dienen (aufgezeichnet durch fMRT), von denen man weiß, dass sie in besonderem Maße an der Verarbeitung von Emotion und Motivation beteiligt sind (z.B. Thalamus, Amygdala, Hippocampus) oder an Planungs- und Entscheidungsprozessen (z.B. präfrontaler Cortex). Im EEG findet man eine Reihe von zeitlichen Indikatoren. Beispielsweise reflektiert eine bestimmte Aktivität in Beta-Wellen Belohnungsverhalten und kann den Erfolg eines Produktes oder Werbespots teilweise vorhersagen.

 

Beliebt ist die frontale Alpha-Asymmetrie (aufgezeichnet durch EEG) in der Untersuchung der Emotionsverarbeitung. Hier sind Aussagen möglich über positive oder negative Bewertungen eines Produktes. Hintergrund ist ein Ungleichgewicht der Alpha-Aktivität im Frontalbereich zwischen den Hemisphären des Gehirns, also zwischen linker und rechter Seite. Dieses Ungleichgewicht variiert mit der emotionalen Bewertung, stellt also quasi einen Like - Dislike - Abgleich dar.

 

Im autonomen Nervensystem zeigen sich z.B. in der Herzrate Muster eines allgemeines Aktivierungslevels oder im Hautleitwert Indikatoren für Stressreaktionen.

 

Im Neuromarketing sind besonders emotionale Zustände von Interesse, wie aktive Zuwendung, Aufregung, Stress oder Rückzugsverhalten. Emotionen sind im Gehirn über neuronale Netzwerke mit individuellen Erfahrungen verknüpft und prägen nachhaltig, wie wir uns in zukünftigen Situationen entscheiden werden. Vorzugsweise blicken die Experten auf Dinge, die sogenannte ästhetische Emotionen hervorrufen. Darunter versteht man alles, was uns stark bewegt, fasziniert, neugierig macht, überrascht usw. Körperliche Aktivitätsmuster werden hier quasi als impliziter Call to Action gesehen.

 

 

Manche der Ergebnisse von Neuromarketing-Studien bestätigen unsere Alltagseindrücke, andere jedoch nicht. 

 

Beispielsweise scheint es große Unterschiede in Produktwahrnehmung und Kaufverhalten zwischen den Geschlechtern zu geben, was wahrscheinlich die wenigsten verwundert. Egal ob es um Schuhe oder E-Commerce-Produkte geht. Auch der Hang zum Kauf von Luxusmarken unterscheidet sich zwischen den Geschlechtern. Demnach geben Frauen diesen einen höheren emotionalen Wert, wenn sie in Gesellschaft von anderen Menschen sind, als wenn sie allein sind. Bei Männern scheint der soziale Zusammenhang kaum zu bestehen. (Frage: Wie ist das bei Menschen, die sich als divers einordnen?)

 

Beim Einkaufen im Geschäft neigen wir eher dazu eine emotionale Beziehung zu Produkten zu entwickeln, die wir direkt anfassen können. Alle Supermarkt-Besucher mit Kleinkindern können ein Lied davon singen. Auch kann man mit Hilfe von Neuromarketing-Methoden gezielt herausfinden, auf welche sensorischen Eigenschaften von Verpackungen Kunden Wert legen und so beispielsweise das Design von Etiketten auf Weinflaschen anpassen.

 

Soweit so gut. Wie bewerten wir aber Ergebnisse, die zeigen, dass Menschen nicht immer nach ihren geäußerten Präferenzen handeln? Oft meinen wir, Produkte von sozial verantwortlichen Unternehmen zu bevorzugen, die sich beispielsweise für faire Arbeitsbedingungen oder Umweltschutz engagieren. Der Blick ins Gehirn offenbart jedoch, dass viele Kunden in erster Linie auf niedrige Preise konditioniert sind. Das würde bedeuten, dass wir sozial verantwortliches Konsumverhalten aktiv lernen müssen, entgegen den neuronal verankerten Gewohnheiten.

 

 

Soziale Einflüsse spielen eine herausragende Rolle in der Bewertung von Produkten und bei Kaufentscheidungen. 

 

Menschen sind soziale Wesen. Und wenn wir zusammen sind und gemeinsame Erlebnisse teilen, dann stellen sich Zustände von  "neural synchrony" ein. Damit wird erklärt, dass unsere Gehirnaktivität quasi im Gleichklang mit der Gehirnaktivität der anderen schwingt. In sogenannten Hyperscanning-Studien werden gezielt synchrone Aktivitätsmuster bei zwei oder mehreren Personen untersucht. Man kann damit sogar Leader - Follower - Beziehungen darstellen, also wer wem in sozialen Situationen folgt. Und Menschen folgen sehr gern anderen Menschen.

 

In sozialen Netzwerken orientieren sich Menschen an Vorbildern und deren Haltung. User imitieren gewöhnlich das Verhalten anderer unter der Annahme, dass deren Handlungen angemessen und vorbildhaft sind. Die Glaubwürdigkeit von Vorbildern ("source credibility") hat sich als entscheidend herausgestellt dafür, bestimmte Botschaften zu akzeptieren und den Willen zum Kauf eines Produktes zu entwickeln. Die Influencer wissen, wovon ich rede. Man weiß inzwischen durch Neuromarketing, dass eine Person mit entsprechendem emotionalen Engagement und Leidenschaft bei Kunden einen Zustand von "neural synchrony" erzeugen kann, was das Gemeinschaftsgefühl verstärkt und Menschen emotional offener macht für Angebote.

 

Wenn wir so leicht beeinflussbar sind, dann stellt sich eine wichtige Frage:

 

Gibt es einen "Kauf-Knopf" im Gehirn, den man drücken kann, welcher uns zu willenlosen Konsumenten macht? Diese Frage polarisiert Gegner und Befürworter des Neuromarketings. Tatsächlich hat man immer wieder versucht einen solchen "Kauf-Knopf" zu finden. Die gute Nachricht für Konsumenten: Es gibt ihn nicht. Gleichwohl ist Neuromarketing von Beginn an von einer ethischen Diskussion begleitet. Diese betrifft sowohl die an den Studien beteiligten Forscher als auch Kunden als auch die Politik.

 

Forscher, die Neuromarketing-Studien durchführen, sollten sich beispielsweise folgende Fragen stellen: Ausgehend von der Annahme, dass Forschung an Menschen weitgehend der Vermehrung von Gesundheit und Wohlbefinden von Individuen dienen sollte (Inhalt der Deklaration von Helsinki), wie passt dies im Einzelfall zusammen mit Forschungsvorhaben, die das Ziel haben Menschen zu veranlassen mehr zu kaufen als sie brauchen? Würde eine Studie Menschen dazu bringen gegen eigene Werte zu handeln, z.B. Nahrungsmittel zu erwerben, deren Konsum unabsehbare Gesundheitsfolgen hat? Sind wirklich Profis am Werk, die das neurowissenschaftliche Handwerk erlernt haben und die Methoden fachgerecht anwenden? Welche Risiken ergeben sich? Werden Sponsoren, Inhalte der Forschung, Methoden, Ergebnisse und mögliche Konsequenzen offen gelegt oder verschleiert? Siehe mein eingangs erwähntes Erlebnis.

 

Kunden wird nahegelegt sich über dieses Thema weiterzubilden und auch ihre Kinder mit einzubeziehen. Die Gesellschaft steht in dem besonderen Dilemma den Schutz von Individuen mit dem Schutz der Wirtschaft abzuwägen. Auch wird sich herausstellen, inwieweit regulatorisch eingegriffen werden muss oder nicht. Viele ungelöste und heiß diskutierte Fragen...

 

 

Fest steht aber: Neuromarketing wird immer beliebter.

 

Aktuell soll es mehr als 150 Neuromarketing-Firmen weltweit geben, die vor allem den großen Unternehmen ihre Erkenntnisse liefern. Und die Entwicklung geht weiter. Schon stehen diejenigen bereit, die uns in faszinierende virtuelle Welten entführen und natürlich wissen wollen, auf welche Szenarien wir besonders intensiv reagieren. Man weiß beispielsweise, dass das Aktivitäts- und Spannungsniveau umso höher ist, je stärker Menschen in virtuellen Realitäten präsent sind. Eine Herausforderung liegt darin erweiterte Realitäten zu erschaffen, die mentale, emotionale und körperliche Reaktionen erzeugen, die denen in unserer realen Welt nahe kommen. Möglich wäre das z.B. durch Einsatz von Biofeedback. Ich bin gespannt auf diese Entwicklung.

 

Quellen zum Weiterlesen (Englisch):

Christensen, JF et al. (2022). Choice hygiene for "consumer neuroscientists". Ethical considerations and proposals for future endeavours. Front. Neurosci., 13 June 2022. Sec. Decision Neuroscience. https://doi.org/10.3389/fnins.2021.612639

Russo, V et al. (2022). From virtual reality to augmented reality: A neuromarketing perspective. Front. Psychol., 09 September 2022. Sec. Organizational Psychology. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2022.965499

 

Photos:

Eddi Aguirre

Clays Banks

Hammer & Tusk

Markus Spiske

alle auf Unsplash

 

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